20. Oktober 2015
Erschienen im "Bündner Tagblatt" am 20. Oktober 2015.
Eine besondere Eigenschaft von Proporzwahlen ist die Möglichkeit, die vorgegebenen Listen der Parteien nach eigenem Gusto verändern zu können und beispielsweise Vertreterinnen und Vertreter von verschiedenen Parteien zu kombinieren. Im nationalen Vergleich zeigt sich, dass die Bündner Stimmberechtigten gerne ihre eigene Liste zusammenstellen – nur knapp mehr als ein Fünftel der Stimmberechtigten hat bei den Wahlen 2011 die Liste einer Partei unverändert reingeworfen, was damals nur von den Wallisern unterboten wurde.
Obwohl Panaschierstimmen prozentual die Parteistärken wenig verändern, sind sie doch für Überraschungen gut. 2011 war die Grosszügigkeit der SP-Wählerinnen und Wähler für Josias Gasser mit ein Grund für den Sitzgewinn der Grünliberalen (GLP). SP-Parteipräsident Jon Pult hat deshalb die eigene Parteibasis für die Wahlen 2015 aufgerufen, geschlossen für die SP zu stimmen. Nach den Wahlen kann nun – nach ersten Erkenntnissen – festgestellt werden, dass von den Mitte-Parteien FDP, BDP und CVP insgesamt mehr als 5100 Panaschierstimmen an die SVP gingen (siehe Grafik 1). Zwar revanchierten sich die SVP-Wähler mit mehr als 6200 Stimmen, die SVP verlor also in der Summe Stimmen an die Mitte. Eine höhere Geschlossenheit der Mitteparteien hätte aber den Einzug von Magdalena Martullo-Blocher in den Nationalrat verhindert und den Sitzgewinn für die FDP bedeutet.
Werden die gewonnenen und verlorenen Stimmen pro Partei angeschaut (siehe Grafik 2), so ist die CVP mit mehr als 15400 gewonnen Stimmen auf Kosten anderer Parteien die Siegerin der Panaschierstatistik – gefolgt von der FDP und der SVP. Die BDP, welche bei den letzten Wahlen dank dreier starker Kandidaten dominierte, erhält rund 4000 Panaschierstimmen weniger, was auf den fehlenden Bisherigen-Bonus zurückgeführt werden kann.
Die GLP kann im Vergleich zu 2011 ihre Verluste reduzieren. Die SP verliert mehr Stimmen an andere Parteien, wobei der Unterschied auf rund 700 Stimmen für die GLP zurückgeführt werden kann. Werden die Panaschiergewinne und -verluste im Verhältnis zur Parteistärke gesetzt, so zeigt sich aber bei beiden Parteien eine höhere Parteiloyalität (Grafik 3 nach Moser 2015): Auf 100 eigene Wahlzettel verliert die Partei von Gasser nur noch 126 Stimmen und verbessert sich deutlich im Vergleich zu den letzten Wahlen (2011: –143 Stimmen). Die SP verbessert sich leicht von 73 Stimmen auf 66 Stimmen, sodass auch hier ein Effekt der stärkeren Geschlossenheit beobachtet werden kann,was mit der höheren Parteistärke einhergeht.
Die loyalste Parteibasis hat die SVP, die bei 100 eigenen Wahlzetteln nur 43 Stimmen an andere Parteien verliert. Knapp vor der CVP hat die SVP auch die attraktivste Liste, diese zwei Parteien konnten auf 100 fremde Wahlzettel jeweils 29 respektive 28 Stimmen von anderen Parteien hinzugewinnen. Regelrecht auf Sinkflug gehen BDP und FDP. Die BDP, welche bei den Wahlen 2011 noch die attraktivste Liste präsentieren konnte, fällt hinter die anderen bürgerlichen Parteien zurück.
Am dramatischsten ist allerdings der Rückgang bei der Parteigeschlossenheit bei FDP und BDP. Auf 100 eigene Wahlzettel verliert die FDP neu 100 Stimmen (2011: –79). Die FDP-Wähler haben vergleichsweise also deutlich mehr fremde Kandidierende auf die Liste gesetzt als noch bei den Nationalratswahlen 2011. Bei einer Auswahl von zehn Kandidaten stellt sich somit die Frage, ob die vielen Köpfe zu wenig präsent und bekannt waren, sodass die eigenen Wähler nach Majorz-Logik bekanntere Köpfe von anderen Parteien gewählt haben. Bei der BDP gingen auf 100 eigene Wahlzettel 140 Stimmen verloren (2011: –108), sodass für die Regierungspartei die Taktik mit einer stark erneuerten Liste ohne Bisherigen nicht aufgegangen ist. Die BDP hat am Schluss als einzige Partei mehr Stimmen verloren, als sie gewonnen hat. Die Verluste der BDP vom Wahlsonntag haben somit zwei Quellen: einerseits ist die Parteibasis geschmälert worden, Wähler sind zu anderen Parteien (tendenziell der SVP) abgewandert; andererseits ist die übrig gebliebene Wählerbasis weniger loyal zur BDP und die Liste zu wenig attraktiv, um per Panaschierstimmen zuzulegen.
Wer hat Magdalena Martullo-Blocher (SVP) in den Nationalrat gewählt? Ein erster Blick in die Panaschierstatistiken der Wahlen 2015 zeigt, dass Martullo-Blocher insbesondere von der eigenen Partei getragen wird. Von ihren fast 19'000 Stimmen erhält sie lediglich etwa 3'500 Stimmen von Wählerinnen und Wähler ausserhalb der Partei. Trotz insgesamt drittbestem Resultat ist sie somit bei der Panaschierrangliste nur auf dem siebtem Platz und wird von den Nichtgewählten Gasser (GLP) und Michel (FDP) überholt.
Bei Ankündigung der Kandidatur im April 2015 wurde befürchtet, dass Martullo-Blocher bei den Mitte-Parteien, insbesondere der FDP, viele Panaschierstimmen holen könnte. Ein erstes Fazit ist aber, dass das Team Martullo-Blocher und Brand nicht in erster Linie Panaschierstimmen abgegrast haben, sondern direkt die Wählerinnen und Wähler der Mitte-Rechts-Parteien gewonnen haben. Die Ausweitung der Parteibasis führt dazu, dass Martullo-Blocher mit 15'372 und Heinz Brand (SVP) mit 18'127 eigene SVP-Parteistimmen auf den Sitz im Nationalrat gehoben haben.
Auch Brand konnte im Vergleich zu 2011 ausserhalb der Partei wenig zulegen. Während Martin Candinas (CVP) dank Bisherigen-Bonus seine Panaschierstimmen fast verdoppelt, gewinnt Brand nur etwa 1'000 zusätzliche Stimmen.
Den Bestwert 2015 erreicht Martin Candinas (CVP), wobei wohl einerseits der Bisherigen-Bonus gespielt hat. Andererseits führt die Listenverbindung in der Mitte dazu, dass FDP- und BDP-WählerInnen ihre Stimmen an Candinas geben können, ohne, dass diese für die Sitzverteilung "verloren" gehen. Candinas überholt Gasser, der weniger Panaschierstimmen als letztes Mal erreicht, wohl auch weil wenige Stimmberechtigte von seinen Wahlchancen überzeugt waren.
Für die weiteren Nationalratskandidatinnen und -kandidaten in den Top 10 kann festgestellt werden, dass Duri Campell (BDP) sowohl innerhalb der Partei wie auch ausserhalb der Partei im Vergleich zu Felix mehr überzeugt hat. Anders bei der FDP, wo Michael Pfäffli (FDP) dank der Listenstärke vor Hans-Jürg Michel (FDP) zum Zuge gekommen wäre, obwohl Michel mehr Stimmen erreicht hat. Das höhere Resultat von Michel ist auf mehr Panaschierstimmen zurückzuführen, d.h. Unterstützung ausserhalb der Partei, während Pfäffli innerhalb der Partei bevorzugt wurde.
Bei der SP schliesslich zeigt sich, dass Silva Semadeni (SP) wohl dank Bisherigen-Bonus über die Parteigrenze hinweg überzeugen konnte. Innerhalb der SP hat Parteipräsident Pult aber rund 500 Stimmen Vorsprung auf Semadeni. Die zusätzlichen Panaschierstimmen von Semadeni, fast 1'000, sichern ihr trotzdem weitere vier Jahre in Bern.
clau.dermont@pm.me